Es gibt sie, die magischen Orte in Berlin. Es ist Donnerstag, der 9. November 1989. Gegen 17 Uhr trudeln wir im Internationalen Pressezentrum in der Mohrenstraße 36/37 in Berlin-Mitte ein. Schräg aus dem Fenster im 3. Stock blicken wir auf den Gendarmenmarkt mit dem Berliner Konzerthaus. Zunächst geht es für die Journalisten, Kameraleute und deren Assistenten ums Warten. Eine Möglichkeit die Zeit angenehm zu gestalten ist die Kantine im 2. Stock. Trotz des Zwangsumtausches von 25 DM in 25 Ost-Mark sind die Preise in der Kantine niedrig. Auch hier werden, wie überall in der DDR die Lebensmittelpreise subventioniert. Daneben bieten sich Gespräche unter Kollegen an. Journalisten sprechen mit ihren Teams über die aufzuzeichnenden Teile der Pressekonferenz. Journalisten tauschen sich mit ihren Kollegen über die neusten Gerüchte aus, Kameraleute und deren Assistenten sprechen über ihre Ausrüstungen und ihre Erfahrungen bei der täglichen Arbeit. Zumindest in den letzten drei Tagen haben die Pressekonferenzen mit Günter Schabowski jeweils preußisch pünktlich um 18 Uhr begonnen. Was wird uns wohl heute an diesem Abend erwarten? Vor exakt drei Jahren kam ich nach Berlin. Es war für mich ein trauriger Tag. Ich stand an diesem Abend des 9. November 1986 um 21 Uhr in Tegel mit zwei Reisetaschen in der Hand und hatte seit zwei Tagen keine Wohnung mehr. Meine Freundin Carina hatte sich einen anderen Mann geangelt. Zurück ins Internationale Pressezentrum. Unser Redakteur erinnert uns an die bevorstehende Pressekonferenz – Konzentration ist erforderlich. Schon wieder schweifen meine Gedanken ab. Es ist der 18. Oktober 2015. Ich sitze im Pressecounter im 4. Stock vom Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt. Ich blicke aus dem Fenster und denke an die Zeit vor 25 Jahren. Was hat sich geändert, was ist geblieben? Die magischen Orte sind in Berlin geblieben. Dazu gehört das Konzerthaus am Gendarmenmarkt. Den ECHO Klassik 2015 an diesem magischen Ort zu veranstalten ist eine kluge Idee. Der Vorsitzende des Bundesverbandes Musikindustrie e.V., Professor Gorny beginnt mit einem Dreiklang, so, wie es zur Musik paßt: „ Kreativität, Kunst, Kultur.“ Die Journalisten sitzen währenddessen in einem eigenen Saal und genießen die Aufzeichnung am Fernseher. Nach und nach werden dann die Preisträger über den roten Teppich im Raum geführt. Erster Preisträger ist Jonas Kaufmann. Elīna Garanča, Lang Lang und Nemanja Radulović sind die weiteren Preisträger und schlendern ebenfalls über den roten Teppich der Photographen. Was ist der ECHO Klassik? Der ECHO Klassik ist ein deutscher Musikpreis für Persönlichkeiten und Produktionen aus dem Bereich der klassischen Musik. Der ECHO Klassik ist der zweitälteste von drei Echopreisen und wird von der Deutschen Phono-Akademie seit 1994 jährlich vergeben.
Was machen Journalisten, Kameraleute und deren Assistenten zwischen den Auftritten der Stars? Sie lauschen der engagierten Moderation von Nina Eichinger und Rolando Villazón, sie lungern um das magere Buffett (Kekse, Kuchen, Kaffee) herum und sie tauschen sich mit ihren Kollegen aus. Viel verändert hat sich in den letzten 25 Jahren nicht. Sprechen, essen, lauschen – das galt auch schon zu Zeiten im Internationalen Pressezentrum. Nur die Technik ist moderner geworden. Heute ist alles digital, früher war alles analog. Gespräche sind auch analog. Meine Gedanken schweifen wieder ab. Ich sitze im 3. Stock im Internationalen Pressezentrum in der Mohrenstraße. Günter Schabowski wird kurz vor 19 Uhr noch eine Frage gestellt. Er holt einen Zettel aus seiner Jackentasche und stammelt: „Nach meiner Kenntnis gilt es ab sofort.“
Die Pressekonferenz ist vorüber, alle stürmen nach vorne und umringen Günter Schabowski. Was ist los? Im Konzerthaus am Gendarmenmarkt beginnt die Pause der Aufzeichnung. Zurück in der Gegenwart. Ist es besser durch die digitale Technik? Mag sein, aber die Störanfälligkeit hat auch zugenommen (siehe Photo mit den Zetteln unter dem Fernseher).
Die Aufzeichnung beginnt für den zweiten Teil. Um 22 Uhr soll die Sendung im ZDF ausgestrahlt werden. Es gibt noch mehr zu hören, zu sehen und zu besprechen. Der letzte Akt beginnt im Konzerthaus. Die Besucher sind freudig erregt, die Journalisten sind zufrieden ermattet. Günter Schabowski hatte an jenem schicksalsträchtigen 9. November 1989 seinen letzten großen Auftritt. Auch die Künstler im Konzerthaus am Gendarmenmarkt hatten ihre letzten Auftritte. Wir packen die Technik und unsere Notizen zusammen und treten auf den Gendarmenmarkt. Es ist mild und trocken. Ich genieße die Ruhe und freue mich über die magischen Orte in Berlin.
Jürgen Hall